Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. (Johannes 3, 14b-15)
Der letzte Sonntag in der Passionszeit heißt Palmsonntag, nach der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem, in der geschildert wird, wie die Menschen ihn begeistert begrüßten und ihm mit ‚Hosianna‘-Rufen und Palmzweigen einen großen Empfang bereiteten. Sein Einzug glich dem eines Königs. Doch die erwartungsvolle Hochstimmung der Menschen im Blick auf sein Königtum sollte bald umschlagen in eine große Enttäuschung. Jesus entzog sich ihren Vorstellungen, sein Königreich war von anderer Art. Die Botschaft von Frieden und Gerechtigkeit, die Jesus brachte, war nicht mit Macht und Gewalt durchzusetzen.
Die Karwoche, die mit Palmsonntag beginnt, erinnert an den Weg, den Jesus mit dem Einzug in Jerusalem nahm: von den Diskussionen im Tempel und der Tempelreinigung über das Passamahl, das Jesus mit seinen Jüngerinnen und Jüngern feierte, in dem er das Abendmahl einsetzte; über seine Verhaftung im Garten Gethsemane und den Verhören vor dem Hohen Rat und vor Pilatus bis zu seiner Verurteilung und Kreuzigung auf dem Hügel Golgatha. Es ist ein Weg, an dessen Anfang das ‚Hosianna!‘ und an dessen Ende das ‚Kreuzige!‘ steht.
Wie schnell kann Jubel in Ablehnung umschlagen. Wie leicht kann die Stimmung unter Menschen kippen. Diese Erfahrung gab es zu allen Zeiten. Stimmungsumschwung: das ist auch ein Thema für uns, ganz aktuell. Immer wieder wird gefragt, wie in der jetzigen Corona-Krise die Stimmung unter den Menschen ist. Bleibt sie friedlich? Bleiben wir ruhig und besonnen und halten die vorgeschriebenen Maßnahmen ein? Oder reicht wenig aus, um das Vertrauen in unsere Ordnung zu gefährden und Panikgefühle aufkommen zu lassen? Der Hang zum Hamstern von Vorräten für eine befürchtete noch schlimmere Zeit ist ein erster Gradmesser für Panikgefühle in einer Gesellschaft.
Die Stimmungen, die uns derzeit beschäftigen, können erheblich schwanken. In einem Moment noch sind wir zuversichtlich, im nächsten schon ängstlich und besorgt. Wir leben mit diesen Widersprüchen des Lebens, und wir leben mit den Widersprüchen in uns selbst. Wir kennen die Angst in uns, selbst wenn wir sie eigentlich nicht haben wollen. Wir sind so leicht verunsichert und kreisen dann mit unseren Gedanken und Sorgen nur um uns selbst. Wir brauchen ein großes Vertrauen in unsere Gemeinschaft, in die guten Absichten, die wir miteinander und füreinander haben. Wir brauchen die Kraft des Glaubens, die uns mit den Widersprüchen leben lässt.
Das Johannesevangelium, aus dem der Wochenspruch für Palmarum kommt, kennt solche Widersprüche. Mehr noch: Es arbeitet auch theologisch bewusst mit Widersprüchen: Licht und Finsternis, Leben und Tod, die Welt und Gottes Reich. Es beschreibt, was sich gegenüber steht, und versteht es zugleich als etwas, das vor Gott zusammengehört. Am deutlichsten wird dies am Kreuz, in dem die einen ein Zeichen des Todes sehen, und andere das Zeichen der größten Hingabe Gottes. Für Johannes ist die Kreuzigung stets die „Erhöhung Jesu“, sein Sieg über die Welt. Am Kreuz wird alles, was dunkel und böse ist im Leben, alle Angst und Schuld durch Jesu Tod überwunden. Darauf zu vertrauen, also auf das Kreuz zu vertrauen, schenkt uns jetzt und hier Anteil am ewigen Leben und gibt uns die Kraft, mit unseren eigenen Widersprüchen und mit denen der Welt zu leben.
Eindrücklich wird dies in einem Lied aus den Singt-Jubilate-Gesangbuch benannt. Im Lied „Was ich erträume“ (SJ 152) heißt es in der dritten Strophe:
„Freund meine Hoffnung, vollende dein Tun; / mitten im Lärm lass mein Innerstes ruhn / in der Gewissheit, dass das, was zerstört, / von dir geheilt wird und zu dir gehört.“
Pfarrerin Anne-Kathrin Finke